1. Sprech- und Darstellungsweisen auf dem Prüfstand

Modelle sind im Chemieunterricht der Sekundarstufe I und II unverzichtbar. Diese Tatsache erfordert von allen Schüler/ inne/n eine erhebliche Abstraktionsleistung. Seitens der Lehrenden bedeutet es aber auch, dass sie stets darauf achten, in ihrem Unterricht zwischen experimentell zugänglichen Phänomenen und deren modellhafter Beschreibung zu differenzieren. Insbesondere dürfen Lernende in Aufgaben nicht dazu aufgefordert werden, experimentelle Ergebnisse mittels Modellvorstellungen zu begründen.

Woher weiß das Kohlenstoffatom, welchen Hybridisierungszustand es im Methan- oder dem Kohlenstoffdioxid-Molekül hat? Wer hat nämlichem Kohlenstoffatom gesagt, dass es zur Ausbildung von vier Bindungen zu vier Wasserstoffatomen zunächst seine Elektronen anregen muss, damit anschließend bei der Bildung von vier Elektronenpaarbindungen dieser Energieaufwand mehr als ausgeglichen wird (vgl. auch PREUSS & REIMANN, 1990)? Nach Antworten muss man nicht lange suchen, da schon die Fragen falsch formuliert sind. Auch die Verwendung von Animismen in diesem Zusammenhang verbietet sich von selbst. Atome können bekanntlich weder etwas „wissen“, noch „hören“ oder eventuell auch „streben“ (dazu an anderer Stelle mehr). Warum werden dann aber in Lehrbüchern oder auch in Kursarbeiten oder Klausuren vergleichbare und damit falsche Aussagen abgedruckt? Dieses Problem möchte ich an einigen Beispielen weiter ausführen und Alternativen vorschlagen.

2. Verwirrungspotenzial obiger Sprech- und Darstellungsweisen

2.1 Eine Aufgabe zum Thema Atombau und chemische Bindung

Das Methanmolekül ist tetraedrisch aufgebaut. Begründe diese Struktur mit Hilfe des Orbitalmodells.

Die Intention der Aufgabenstellung ist jedem/r Chemielehrer/ in klar, vermutlich sollen die Schüler/innen zeigen, dass sie mit den Begriffen Hybridorbital oder sp³-Hybridisierung umgehen können. Unbeabsichtigt vom Fragesteller wird bei dieser Formulierung allerdings der Weg der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung umgedreht. Während die Struktur des Methanmoleküls über messbare Größen wie Bindungswinkel bzw. –abstände sehr genau bestimmt werden kann, müssen Orbitale eindeutig der Modellebene zugeordnet werden. Die Wasserstoffatome im Methanmolekül sind also nicht wegen einer gedachten sp³-Hybridisierung des Kohlenstoffatoms in den Ecken eines Tetraeders angeordnet, diese Positionen wurden im Experiment gefunden und vielfach bestätigt. Die Modellvorstellung folgt also dem Experiment und nicht umgekehrt. Darüber hinaus musste das Orbitalmodell noch um das Modell der Hybridisierung erweitert werden, damit man die gefundenen Bindungswinkel auch zufriedenstellend beschreiben kann.

2.2 Eine materialgebundene Aufgabe aus der organischen Chemie

Molekül Bindungslängen in pm Bindungsenthalpien in kJ/mol
Ethan C - C 154 C - C 347
Ethen C = C 133 C = C 598
Tab. 1. Bindungslängen und Bindungsenthalpien (SYKES, 1988)

„Erkläre die experimentellen Befunde aus Tabelle 1 ausführlich.“

Diese sehr offen (zu offen?) formulierte Aufgabe dürfte unweigerlich zu Nachfragen aus der Lerngruppe führen (etwa: „Müssen wir hier auch Modelle benutzen?“). Dies könnte durchaus die Intention des Lehrenden gewesen sein, da die richtige Begründung mit der messbaren erhöhten Elektronendichte zwischen den Kohlenstoffatomen im Ethen-Molekül ggfs. als zu einfach und eventuell als unvollständig angesehen wird. Eine nur wenig präzisere und damit immer noch ungünstige Aufgabenstellung könnte unter Umständen lauten wie folgt:

„Erläutere zunächst die Bindungsverhältnisse in den beiden Molekülen und erkläre anschließend die experimentellen Befunde aus Tabelle 1.“

Erwarten könnte man jetzt von den Jugendlichen, dass sie für die Kohlenstoffatome in beiden (!) Molekülen eine sp³-Hybridisierung annehmen. „Die Verkürzung der Bindung im Ethen- Molekül könne man schließlich auch an der „Bananenbindung“ im Molekülmodell (CVK-Verlag) erkennen.“ Eine andere Lösung für das Ethen-Molekül könnte eine sp²-Hybridisierung und anschließend die Ausbildung einer σ- und einer π-Bindung nutzen mit dem Hinweis, dass die seitliche Überlappung der senkrecht auf der Molekülebene stehenden p-Orbitale die beiden Kohlenstoffatome stärker zueinander zieht.

Beiden Lösungsvorschlägen gemeinsam ist, dass sie völlig falsche und daher unzulässige Schlussfolgerungen enthalten, erneut wurde der Weg der Erkenntnisgewinnung umgedreht.

Wohl wird erkennbar, dass die Lernenden im Unterricht etwas von Hybridorbitalen und Bindungsvorstellungen gehört haben, alleine der begrenzten Anwendbarkeit der Modelle wurde hier bei der Besprechung im Vorfeld offenbar zu wenig Bedeutung beigemessen. Modelle dürfen auch in diesem Beispiel auf keinen Fall zur Begründung der Messdaten herangezogen werden, sondern allenfalls zur nachträglichen Beschreibung.

2.3 Eine Aufgabe zur Verwendung des Schalenmodells.

Wie ändern sich die Atomradien (die Ionisierungsenergien) der Elemente in der ersten Hauptgruppe des Periodensystems? Begründe deine Antwort mit Hilfe eines geeigneten Modells.“

Auch hier liegt der Fehler bereits in der Fragestellung, mehr noch: hier läuft der Lehrende Gefahr, dass seine Schüler/innen Fehlvorstellungen entwickeln oder bereits vorhandene verfestigen könnten. Die hohe Anschaulichkeit des Schalenmodells verführt die Jugendlichen geradezu zur Annahme, dass die Kaliumatome aufgrund einer (modellhaft angenommenen)zusätzlichen Schale größer als die Natriumatome seien. Dabei sind es genau 8 Elektronen mehr in der Hülle (messbar!), die durch ihre gegenseitige Abstoßung mehr Platz beanspruchen.

Falls die Veränderung der messbaren Ionisierungsenergien der Alkalimetalle nachgefragt wurde, darf das Schalenmodell natürlich auch nicht zur Begründung herangezogen werden.

2.4 Formulierungen, die man im Zusammenhang mit dem Schalenmodell, der Oktettregel und der Edelgaskonfiguration vermeiden sollte.

Atome streben in ihren Reaktionen miteinander die Edelgaskonfiguration an. Die Anzahl der dabei aufgenommenen bzw. abgegebenen Elektronen hängt davon ab, wie viele Elektronen in der äußeren Schale noch fehlen bzw. zu viel sind. Genügen die so gebildeten Ionen der Oktettregel, so reagieren sie nicht weiter.“

Alle genannten Begriffe gilt es mit Bedacht zu verwenden und fachlich korrekt einzuführen. Die Edelgaskonfiguration leitet sich aus einem Vergleich des Reaktionsverhaltens der Edelgase bzw. von salzartigen Verbindungen ab. Auf Teilchenebene findet man eine Übereinstimmung in der Elektronenzahl von Edelgasatomen und Kationen bzw. Anionen in salzartigen Verbindungen und verknüpft diese, auf die Stoffebene zurückkehrend, mit ausbleibenden weiteren Reaktionen.

Auch hier sollte man auf die lieb gewonnenen (weil so anschaulichen) Animismen verzichten: Atome „streben“ weder nach einer Regel noch „zählen“ sie aufzunehmende bzw. abzugebende Elektronen.

3. Vorschläge zur Minimierung von Verwirrung und Verständnisschwierigkeiten durch veränderte Aufgabenstellungen

Zu 2.1, der Aufgabe zum Thema Atombau und chemische Bindung

Vorschlag 1: „Messungen haben ergeben, dass alle C-H-Bindungen im Methanmolekül gleich lang sind und alle Bindungswinkel 109,5° betragen. Beschreibe die experimentell gefundene Struktur des Moleküls mit einem geeigneten Modell. Gliedere deine Antwort sinnvoll.“

Vergleicht man die Operatoren in beiden Aufgaben miteinander, könnte man schlussfolgern, dass die Ausführungen zu einer „Begründung“ wesentlich anspruchsvoller sein müssen als bei einer alleinigen „Beschreibung“. Diesen definierten graduellen Unterschied zwischen den Operatoren kann man meines Erachtens bei diesem Thema vernachlässigen. Die intendierte Antwort, die das Wissen um Bindungsmodelle abfragt, wäre in beiden Fällen gleich, jedoch ausschließlich in der zweiten Version im Sinne der Erkenntnisgewinnung auch korrekt. Diese Denkweise gilt es den Jugendlichen im Chemieunterricht auch nahe zu bringen. Je nach Vorkenntnissen der Schüler/innen könnte man den Schwierigkeitsgrad der Aufgabe dadurch erhöhen, indem man zusätzlich den gedanklichen Weg zu den sp³-Hybridorbitalen einbindet.

Vorschlag 2: „Messungen haben ergeben, dass alle C-H-Bindungen im Methanmolekül gleich lang sind und alle Bindungswinkel 109,5° betragen. Zeige, dass man die Struktur des Methanmoleküls mit Hilfe von s- bzw. p-Orbitalen nicht mehr beschreiben kann. Erläutere unter Verwendung von Fachbegriffen, mit welchen Anpassungen des Modells dies wieder gelingt.“

In dieser Variante können die Lernenden mit Hilfe der detaillierteren Informationen zunächst die Grenzen einer bis dahin bewährten Modellvorstellung aufzeigen um im Anschluss die durch ein neu zu beschreibendes Phänomen notwendig gewordenen Veränderungen derselben zu demonstrieren

Zu 2.2, der materialgebundenen Aufgabe aus der organischen Chemie

Vorschlag, Teil 1: „Erkläre die tabellierten Daten (Tabelle 1) auf experimenteller Basis.“

Eine Elektronendichtemessung könnten Lernende nur dann anführen, wenn sie davon zuvor etwas im Unterricht erfahren hätten (Anforderungsbereich I). Akzeptabel wäre auch eine stärkere elektrostatische Anziehung zwischen den Atomkernen der Kohlenstoffatome und den Bindungselektronen.

Vorschlag, Teil 2: „Die Bindungsverhältnisse im Ethen-Molekül lassen sich mit zwei verschiedenen Modellen beschreiben. Stelle das Konzept der „Bananenbindung“ dem Modell der Kombination aus σ- und π-Bindung gegenüber und entscheide, welches Modell zur Beschreibung der experimentell gefundenen Daten (Tabelle 1) besser geeignet ist.“

Das Material sollte man hierzu durch eine Spalte mit den Bindungswinkeln (∢ HCH) erweitern. Mit dieser Formulierung könnte man ein vertieftes Verständnis der Jugendlichen überprüfen, schließlich gilt es, die Leistungsfähigkeit sowie die Grenzen verschiedener Modelle darzustellen (Anforderungsbereich II – III). Außerdem werden Lernende nicht dazu verleitet, eine Modellvorstellung als Wahrheit fehlzuinterpretieren.

Zu 2.3, der Aufgabe zur Verwendung des Schalenmodells.

Vorschlag: „Skizziere den Gedankengang, wie man ausgehend von den experimentell bestimmbaren Ionisierungsenergien zum Schalenmodell gelangt.“

Unter konsequenter Berücksichtigung des Weges der Erkenntnisgewinnung erhalten die Schüler/innen so den nicht einfachen Auftrag die Modellbildung nachzuvollziehen.

Zu 2.4, den Formulierungen, die man im Zusammenhang mit dem Schalenmodell, der Oktettregel und der Edelgaskonfiguration vermeiden sollte.

Vorschlag: Bei der Reaktion von Metallen mit Nichtmetallen entstehen Salze. Die im Gitter gebundenen Ionen sind häufig isoelektronisch zu Edelgasatomen. Dies scheint ein Kriterium für einen energetisch günstigen Zustand zu sein (bezogen auf die exergonisch verlaufende Gesamtreaktion und nicht beschränkt auf die Bildung einzelner Ionen, die im Falle einer Abspaltung von Elektronen aus Atomen schließlich die Zufuhr von Energie erfordert).

Diese Formulierungen gilt es für Jugendliche in der Sekundarstufe I noch anzupassen. So könnte man anstelle von „Streben nach der Edelgaskonfiguration“ von Tendenzen sprechen (SIEVE & HILKER, 2019), nach denen die Atome der Hauptgruppenelemente bei der Bildung von Ionen während einer chemischen Reaktion, aus ihrer Gruppennummer ableitbar, Elektronen aufnehmen bzw. abgeben. Nach dieser Formulierung kann man die Oktettregel, jetzt frei von Animismen, als Hilfsmittel zur Bestimmung der Verhältnisformeln vieler binärer Verbindungen weiterhin verwenden.

4. Abwägung

Chemie ist fraglos ein überaus faszinierendes Unterrichtsfach für Kinder und Jugendliche, zumindest solange sinnliche Wahrnehmungen für Erstaunen und Verwunderung sorgen können. Ein vertiefter Einblick in die Vorgänge auf Teilchenebene gelingt indes nur mit Hilfe von Modellen. Um unseren Schüler/innen diesen schwierigen Zugang nicht zu verstellen, müssen wir stets darauf achten, dass wir den Modellcharakter von Atomvorstellungen im Unterricht ganz klar hervorheben und den Weg der Erkenntnisgewinnung dabei nicht umkehren. Eine Begründung fragt nach der Ursache für einen Sachverhalt, kein Modell kann aber Ursache für ein Phänomen sein und darf folglich auch nicht zur Begründung herangezogen werden.

5. Impulse zum Weiterdenken

Mit welchen Vorgehensweisen und Formulierungen können wir den Modellcharakter von Reaktionsmechanismen im Unterricht hervorheben, ohne den Weg der Erkenntnisgewinnung dabei umzukehren?

Literatur

PREUSS, H. & REIMANN, A. (1990). Atom-und Molekülorbitale: eine Einführung. Frankfurt: Diesterweg.

SIEVE, B. & HILKER, F. (2019). Wie sag ich’s meinem Kinde? Die Tücken (mit) der chemischen Fachsprache. Naturwissenschaften im Unterricht Chemie, 173, 6−7.

SYKES, P. (1988). Reaktionsmechanismen der Organischen Chemie. Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft.

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